Aktuelle Promotionsprojekte
Im fachlichen Zusammenhang mit der Forschungsstelle werden gegenwärtig die folgenden Dissertationsprojekte erarbeitet:
Cornelia Arbeithuber: Revisionen des Nationalen? Mexiko als Schauplatz transgressiver Gemeinschaftsentwürfe und interexilischer Vernetzungen in der (deutschsprachigen) Exil- und Erinnerungsliteratur
Das postrevolutionäre Mexiko der 1930er und 1940er Jahre war ein wichtiger Zufluchtsort für Exilant*innen des politisch linken Spektrums. Befördert durch den hohen Prozentsatz an Intellektuellen sowie die Offenheit der mexikanischen Politik entstand ein dichtes, kulturell produktives Exilnetzwerk. Dabei lässt sich eine Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeitsentwürfen zu einer transnationalen Gemeinschaft und nationalen Orientierungsversuchen erkennen, außerdem paradoxe Überlappungen von kommunistisch-internationalen, nationalkulturellen und jüdischen Selbstpositionierungen. Beobachtbar ist das im Topos ›Anderes Deutschland‹, ›Otra España‹ etc.: in einer vergleichenden Perspektive zwischen deutschem, österreichischem und republikanisch-spanischem Exil werden diese nationalkulturellen Bekenntnisse nach parallelen Argumentationsstrukturen befragt, ferner die (transnationale) Vergemeinschaftung als ›Anderes Europa‹ analysiert. Im Erkenntnisinteresse steht hier auch eine kritische Aufarbeitung der österreichischen Konstellation, besonders mit Fokus auf das Verhältnis zum deutschen und tschechischen Exil. Im Begegnungsort Exil, so meine These, lässt sich die Kategorie ›Nation‹ besonders deutlich herausarbeiten. Ziel ist es, die Konstruktionsprozesse von Gemeinschaft mittels Analysen der literarischen Texte der Exilautor*innen und ihrer Netzwerkaktivitäten zu reflektieren. Zudem möchte ich die Darstellung und Akzentuierungen dieses historischen Exils in jener Gegenwartsliteratur, die erinnernde Rückgriffe auf das Mexiko der 1930er und 1940er Jahre vornimmt, (wiederum mit Fokus auf Nation und Gemeinschaftsentwürfe) untersuchen. Das geschieht in Anlehnung an die Memory Studies und deren Überlegungen zu Erinnern als gegenwartsbezogenem Konstruktionsprozess. Daran schließt ein wissenschaftsgeschichtlicher Fokus auf Narrative (in) der Exilforschung an.
- E-Mail: cornelia.arbeithuber"AT"studium.uni-hamburg.de(cornelia.arbeithuber"AT"gmx.net)
- Betreuung: Prof. Dr. Doerte Bischoff
- Zuordnung/Förderung: Claussen-Simon-Stiftung
Linda Krenz-Dewe: (Fiktionale) Identitätskonstruktionen in deutschsprachigen Erzähltexten jüdischer Autorinnen der dritten Generation nach der Shoah
Das Promotionsprojekt analysiert aktuelle Texte junger jüdischer Autorinnen (Ramona Ambs, Vanessa F. Fogel, Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaja, Julyia Rabinowich, Channah Trzebiner) in Bezug auf Aspekte und Schreibweisen der identitären Verortung, worin die Shoah als 'zentrales Erinnerungsereignis' einen übergeordneten Stellenwert einnimmt. Die Auseinandersetzung mit weiblicher und jüdischer Identität im deutschsprachigen, mehrheitlich nicht-jüdischen Kontext ist das zentrale Sujet der ausgewählten Erzählliteratur, was auf eine unsichere, auszuhandelnde Positionierung im gesellschaftlichen und auch literarischen Feld verweist. Die identitären Suchbewegungen verlaufen zwischen Selbstbe- und Fremdzuschreibungen sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Zudem öffnet der postsowjetische Hintergrund einiger der Autorinnen die literarischen Identitätskonstruktionen in Richtung multipler transkultureller Zugehörigkeiten und Differenzen, was Fragen nach 'dem Jüdischsein' heute noch komplexer werden lässt.
Drei zentrale Gemeinsamkeiten, die zugleich Schwerpunkte der Analyse sind, weisen die Texte dennoch auf: a) die Erfahrung, eine - teils in mehrerlei Hinsicht - 'Andere' zu sein, ist die Grundlage der identitären Konstruktionen; b) das Gedächtnis der Shoah sowie Prozesse der Migration lassen die Texte identitätskonstitutive Topographien des Erinnerns entwerfen; c) der weibliche Körper ist nicht nur Ort vergeschlechtlichender Subjektivation, sondern auch Ort und Medium von (traumatischer) Erinnerung. Das mehrschrittige, diskursanalytisch, gedächtnistheoretisch und narratologisch perspektivierte Analyseverfahren folgt den vielfältigen Verweisungsstrukturen der Texte und zielt zugleich auf die Identifikation spezifischer erinnernder Schreibweisen - auch um diese im Verhältnis zur deutsch-jüdischen Literatur der ersten und zweiten Generation verorten zu können. 'Zwischenräume' der identitären Verortung in kultureller, sprachlicher und topographischer Hinsicht werden mithilfe des Bezugs auf Elemente der postkolonialen Literaturtheorie herausgearbeitet. Aufgrund der großen Nähe der Autorinnen-Biographien zu den textuellen Identitätskonstruktionen sind zudem Fragen der Autorschaft und Autofiktion von Relevanz für das Projekt, das sich in den Feldern der transkulturellen Germanistik als auch der kulturwissenschaftlich orientierten Jüdischen Studien verortet.
- Betreuung: Prof. Dr. Doerte Bischoff | Prof. Dr. Claudia Benthien
- Zuordnung/Förderung: Rosa-Luxemburg-Stiftung | Graduiertenkolleg Vergegenwärtigungen (assoziiert)
Kristina Omelchenko: Familiengeschichte(n) und Familiengedächtnis in deutsch- und russischsprachiger Gegenwartsliteratur
Das Dissertationsprojekt widmet sich der parallelen Betrachtung deutsch- und russischsprachiger Familienromane des 21. Jahrhunderts. Den Forschungsschwerpunkt bilden Narrationen des kollektiven (vor allem Familien-) Gedächtnisses, das private Geschichten mit historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts verflicht. Ein besonderer Fokus liegt auf den Begegnungen und Transfers zwischen Ost- und Westeuropa, die in allen behandelten Romanen dargestellt werden und sie dadurch zur transnationalen Literatur einordnen lassen.
Familie als Kernbegriff des Projekts wird als ein spezifisches Konzept aufgefasst, das eine mehrfache Perspektivierung der Fragen von Identität, Zugehörigkeit, sowie Grenzen im breiten Sinne erlaubt. Die Schauplätze der betrachteten Familienromane sind geographisch zwischen Ost- und Westeuropa angesiedelt, womit sie über nationale Grenzen hinausweisen. Die behandelten Texte bewegen sich einerseits in einem gemeinsamen Kontext der europäischen Geschichte mit ihren Weltkriegen und Katastrophen, andererseits in einer polarisierten Welt, im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Demokratie und Diktatur.
Literaturwissenschaftlich untersucht werden vor allem Schnittstellen und Korrespondenzen in Motiven, Topoi und Ästhetiken des Erzählens in den russisch- und deutschsprachigen Texten. Zentrale Hypothese der Arbeit ist, dass transnationales Erinnern und Erzählen bestimmte gemeinsame Muster herausbilden, die national geprägte Erinnerungsnarrative herausfordern bzw. transformieren. Gleichzeitig wird im Rahmen des Projekts die sozialhistorische Spezifik der Texte berücksichtigt und hervorgehoben. In diesem Sinne wird etwa den Fragen nachgegangen, ob und ggf. wie sich die Ausprägung von Transnationalität im westeuropäischen und postsowjetischen Raum unterscheidet, ob sich im westeuropäischen Kulturdiskurs etablierte (post-)koloniale Theorien auf den (post-)sozialistischen Raum anwenden lassen, und nicht zuletzt, wie transnationale Literatur in beiden Räumen von der Literaturkritik rezipiert und wissenschaftlich erforscht wird.
- Betreuung: Prof. Dr. Doerte Bischoff / Prof. Dr. Anja Tippner
- Zuordnung/Förderung: Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften, Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES)
- E-Mail: kristina.omelchenko"AT"studium.uni-hamburg.de
Jana Schulze: Interexilische Korrespondenzen. Transnationale, transkulturelle und transhistorische Vernetzungen (in) der Exilliteratur
Obwohl von der Singularität einer jeden Exilerfahrung auszugehen ist, finden sich in Texten des Exils wiederholt Anspielungen, Zitate oder Adaptionen, die andere Exilsituationen, deren Literaturen sowie Autor:innen erinnern und aktualisieren. Im Fokus meines Dissertationsprojekts steht die Untersuchung gegenwartsliterarischer Texte des Exils, die auf historische oder zeitgenössische Exilerfahrungen, deren Literarisierungen sowie Schriften implizit wie explizit Bezug nehmen. Darüber hinaus umfasst das Materialkorpus ausgewählte Literaturen des Exils 1933 bis 1945, die Verfilmung von Anna Seghers' Roman Transit (Regie: Christian Petzold) sowie museale, performative und digitale Formen interexilischer Erinnerungsarbeit im öffentlichen Raum.
Forschungsleitend ist die These, dass der Dialog zwischen den Exiltexten im Sinne vernetzter Geschichte(n) als Phänomen transnationaler, transkultureller sowie transhistorischer 'Ko-Erinnerung' (Daniela Henke / Tom Vanassche) lesbar ist. Die intertextuellen Rekurse sensibilisieren für ein 'Gedächtnis der Exilliteratur' (vgl. Renate Lachmann), intermediale Arrangements bilden darüber hinaus die Kommunikation mit anderen Künsten ab. Diesen Beobachtungen zu einem Nach-Leben des Exils schließt sich die Frage an, inwiefern die referenziellen Verbindungen imaginierte Erfahrungs-, Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften stiften (vgl. Benedict Anderson). Sind die Bezugnahmen als Strategien denkbar, der Sprach- und Orientierungslosigkeit angesichts unmittelbarer Flucht begegnen sowie die traumatisch bedingten Leerstellen der Exilerfahrung dennoch erinnern und erzählen zu können?
Ein zentrales Anliegen dieser Studie ist es, den für die Vernetzung literarischer Texte des Exils vorgeschlagenen Begriff der 'interexilischen Korrespondenzen' (vgl. auch 'Interexil' / Alfrun Kliems) zu präzisieren und im wissenschaftlichen Diskurs zu verankern. Entsprechend ist die Analyse als Beitrag für kulturwissenschaftliche Perspektiven der jüngsten Exil(literatur)forschung sowie die Neukonzeptualisierung eines Nationalliteraturen und Epochen übergreifenden Terminus 'Exilliteratur' zu verstehen. Darüber hinaus wird die gesellschaftspolitische Relevanz des Phänomens für die Gegenwart und Zukunft des Gedächtnisraums Europa ausgelotet.
- Betreuung: Prof. Dr. Doerte Bischoff / Prof. Dr. Manfred Weinberg
- Zuordnung: seit Oktober 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur (Leitung: Prof. Dr. Doerte Bischoff), Institut für Germanistik / Universität Hamburg
- E-Mail: jana.schulze@uni-hamburg.de
Carla Swiderski: Das Menschliche spiegelt sich im Blick der Tiere. Auflösung und Neudefinition des Menschen in der Exilliteratur
Wenn von Exil gesprochen wird, ist eine Extremsituation gemeint, die eine unfreiwillige Emigration nach einer existenziellen Bedrohung und einem gesellschaftlichen Ausschluss bezeichnet. Doch trifft der gesellschaftliche Ausschluss die meisten Exilierten nicht erst im Exil. Schon zuvor wurden sie zumeist auf sprachlicher, gesellschaftlicher und rechtlicher Ebene ausgegrenzt. Im NS-Staat wurde die verbale Diffamierung und öffentliche Diskriminierung der Verfolgten vor allem durch eine gezielte Analogisierung mit Tieren vollzogen, kombiniert mit bakteriologischer und rassistischer Terminologie. Wie reagierten die im Exil lebenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren Texten auf die Situation, dass sie in einer Sprache denken und schreiben, die dazu benutzt wurde, ihnen ihr Menschsein abzusprechen? Welche Auswirkungen haben die erlebte Diskriminierung und der gesellschaftliche Ausschluss auf das Selbstverständnis der Exilierten als Menschen? Werden gesellschaftliche Machtverhältnisse reflektiert sowie das Konzept der Mensch-Tier-Dichotomie als Teil dessen hinterfragt? Gibt es eine Kritik an der Gesellschaft, die zu alternativen Entwürfen führt? Von diesen Fragen geleitet wird in diesem Dissertationsprojekt die Konstruktion von ‚Mensch‘ und ‚Menschlichkeit‘ sowie die direkt damit verbundene Verhandlung des Mensch-Tier-Verhältnisses in deutschsprachigen literarischen und philosophischen Exiltexten untersucht, die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
- Betreuung: Prof. Dr. Doerte Bischoff
- Zuordnung/Förderung: Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften, Friedrich-Ebert-Stiftung
- E-Mail: carla.swiderski"AT"studium.uni-hamburg.de
Abgeschlossene Promotionsprojekte
Für bereits abgeschlossene Promotionsprojekte, die in den letzten Jahren im Umfeld der Forschungsstelle entstanden sind, wird hier die entsprechende Publikation nachgewiesen.
Sandra Narloch: Zwischen Weltbürgertum und Neuem Kosmopolitismus. Verhandlungen übernationaler Gemeinschaft und Zugehörigkeit in der Exilliteratur. Stuttgart: Metzler 2022
Unter dem Schlagwort eines ,Neuen Kosmopolitismus’ plädieren Theoretiker*innen verschiedener Disziplinen seit Beginn des 21. Jahrhunderts für eine kritische Wiederaufnahme und Aktualisierung des Kosmopolitismusbegriffs. In der Debatte wird die wesentliche Bedeutung betont, die dem Exil in Bezug auf die Ausbildung kosmopolitischer Praktiken und Haltungen zukommt. Die Studie bringt nun die dabei bislang stark unterbelichteten literaturwissenschaftlichen Perspektiven mit einer Relektüre von Werken von Irmgard Keun, Joseph Roth, Peter Weiss, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger und Thomas Mann zur Geltung.
Jasmin Centner: Journey of no return? Narrative der Rückkehr im Kontext von Gewalt und Vertreibung im 20. und 21. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 2021
Diese literaturwissenschaftliche Studie beschäftigt sich mit Rückkehrerzählungen, denen eine gewaltvolle Vertreibung vorausliegt. Erfahrungen der erzwungenen Entortung und der anschließenden Rückkehr prägen nicht nur die Handlung von Texten, sondern wirken sich auch auf die Ästhetik der Narrationen aus. Die acht untersuchten Erzähltexte (u.a. von Anna Seghers, Abbas Khider, Peter Weiss, Primo Levi, Herta Müller und Doron Rabinovici) befragen (Un-)Möglichkeiten der Rückkehr aus unterschiedlichen Perspektiven. Texte, die vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik entstanden sind, werden mit aktuellen Erzählungen in Verbindung gesetzt. In vier thematischen Sektionen (u.a. Rückkehr aus dem Exil, aus dem Lager sowie nach Palästina/Israel) wird gezeigt, dass die Rückkehr in unterschiedlichen Kontexten ähnliche Erzählmuster hervorbringt sowie Vorstellungen von Heimat und Ursprünglichkeit problematisiert.
Philipp Wulf: „Aber Tote weinen nicht“. Komisches Schreiben im Nachexil bei Alfred Polgar, Albert Drach und Georg Kreisler. Stuttgart: Metzler 2020
Die Studie analysiert die Ästhetik des Komischen in Texten von Alfred Polgar, Albert Drach und Georg Kreisler, in denen die nach 1945 gewandelte wie fortdauernde Erfahrung der Exilierung – die Konstellation des Nachexils – thematisch wird. Die Arbeit widmet sich sowohl der Erschließung der Kategorien Heimat und nationale Identität als auch der bis heute kontroversen Erforschung der Komik, die insbesondere in der Exilliteratur als unkonventionell zu gelten hat. – Die Primäranalysen nehmen ein heterogenes Textkorpus aus Prosaminiaturen, Liedtexten, Romanen und einem Theaterstück in den Blick: Die Gleichzeitigkeit von Selbstverlachung und Selbstbehauptung bei Drach steht neben den Komisierungen der Kommunikation zwischen Remigrant/innen und Nicht-Exilierten bei Polgar und der pessimistischen Gesellschaftskritik Kreislers.
Anne Benteler: Sprache im Exil. Mehrsprachigkeit und Übersetzung bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh. Stuttgart: Metzler 2019
Die Monographie untersucht Sprachkonstellationen in der Literatur des Exils aus NS-Deutschland seit 1933. Im Fokus stehen mehrsprachige Texte von Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh. Die Kombination eines kulturwissenschaftlich geprägten Übersetzungsbegriffs mit Ergebnissen linguistischer Mehrsprachigkeitsforschung macht zwei höchst aktuelle Wissenschaftsdiskurse für die Analyse von literarischen Textphänomenen produktiv. Die Untersuchung erweist, dass die Texte Domins, Kalékos und Lansburghs durch Sprachreflexion, Code-Switchings und Sprachmischungen bestimmt sind. Die Vorstellung einer monolingualen Literatursprache und Nationalliteratur wird dadurch infrage gestellt und es zeigt sich, dass die meist biografisch argumentierenden Vorstellungen von Sprachbewahrung und Sprachverlust im Exil durch alternative Entwürfe von Exilliteratur als translingualem und translationalem Reflexionsraum zu ergänzen sind.
Sonja Dickow: Konfigurationen des (Zu-)Hauses. Diaspora-Narrative und Transnationalität in jüdischen Literaturen der Gegenwart. Stuttgart: Metzler 2019
Die komparatistische Studie arbeitet anhand von Parallellektüren deutsch-, englisch- und hebräischsprachiger Gegenwartstexte den Befund heraus, dass gerade an der Konfiguration des immobilen Hauses Mehrfachverortung und Grenzüberschreitung verhandelt werden. Das Zuhause verliert durch die Zerstörungen der Shoah und die Exilerfahrungen der jüdischen Figuren seine Funktion als Heimat und Ort der Stabilität und Kontinuität. Erinnerndes Erzählen und Traditionen des diasporischen Schreibens werden dagegen als Orte der Zugehörigkeit diskutiert. Der in der mehrsprachigen jüdischen Literaturgeschichte ohnehin angelegte Transnationalitätsdiskurs wird in Untersuchungen zu Nicole Krauss und Anna Mitgutsch, Jenny Erpenbeck und Eshkol Nevo, Michal Govrin und Barbara Honigmann aufgerufen.
Sebastian Schirrmeister: Begegnung auf fremder Erde. Verschränkungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur in Palästina/Israel nach 1933. Stuttgart: Metzler 2019
Deutschsprachige Literatur jüdischer Autor*innen in Palästina/Israel galt lange als Schwanengesang der ‚deutsch-jüdischen Symbiose‘. Begegnung auf fremder Erde nimmt eine neue Perspektive ein, sieht sie als Teil des „Jewish literary complex“ (Dan Miron) und fragt nach ihrer Beziehung zum hebräischen Literaturbetrieb. Basierend auf umfangreichen Archivrecherchen sucht die Studie drei deutsch-hebräische Konstellationen auf: in der Anthologie, in der Übersetzung und in der variantenreichen Erzählung der Einwanderung. Die untersuchten Texte (u.a. von Max Brod, M. Y. Ben-Gavriêl, Josef Kastein, Baruch Kurzweil und Amos Oz) erweisen sich dabei als durchaus kritische Auseinandersetzung mit dem „zionistischen Masternarrativ“ (Gershon Shaked) von der sozialen und kulturellen Erlösung des jüdischen Volkes im Gelobten Land.
Sarah Steidl: Fluchtmigration. Begegnungsszenarien in deutschsprachigen Gegenwartsromanen (2014-2018)
Die vorliegende Untersuchung widmet sich sieben deutschsprachigen Gegenwartsromanen, die in zeitlicher Nähe zur ‚Flüchtlingskrise‘, nämlich in den Jahren von 2014 bis 2018 veröffentlicht wurden. Diese zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass Geflüchtete explizit oder implizit als Schlüsselfiguren der Wirklichkeit aufgerufen werden und emblematisch ein Neusortieren von Gesellschaft und Gemeinschaft in Zeiten der Ambivalenz von Globalisierung und Kapitalismus andeuten. Über verschiedene Genres zeigen die Romane auf, wie von den Zuwanderungsbewegungen Richtung Europa bereits bestehende gesellschaftliche Konflikte aus der Latenz an die Oberfläche gespült werden. Die Texte legen Konflikt- und Affektpotenziale frei und dringen in die Tiefensemantik kollektiver Identität und die in ihr verankerten Regulierungsmechanismen den Umgang mit dem kulturell Anderen betreffend ein.
Die Studie analysiert die im Kontext kontrovers geführter gesellschaftlicher Debatten um Fluchtmigration greifenden Konstruktionen von Fremdheit und die daraus resultierenden Differenzerfahrungen in Kommunikationssituationen. Obwohl die für die Untersuchung ausgewählten Romane allesamt eine auf verbalen Austausch des jeweiligen Figurenpersonals ausgerichtete Erzählanordnung aufweisen, bedeutet dies keineswegs, dass jeweils ein Dialog zwischen Geflüchteten mit Bürger_innen des Zufluchtslandes zustande kommt. Im Gegenteil: vielmehr rücken mit sprachlichen Barrieren, bürokratischen Strukturen sowie rassistischen Ressenti-ments asymmetrische Machtverhältnisse in den Fokus, mit denen die Konnotation des Dialogs als ‚Lösungsbringer‘ durchkreuzt wird. Die narrative Vielstimmigkeit der Romane bringt gewisse gesellschaftliche Unstimmigkeiten zum Vorschein.
Einem literatursoziologischen Ansatz folgend befragt die Arbeit die Romane nach gesellschaftlichen Zeit- sowie Zukunftsdiagnosen und rekurriert damit indirekt auf die Bedeutung von Literatur als Vermittlungsinstanz. Die Studie liefert einen Beitrag zu einer Kartografie des Sozialen; sie rekonstruiert die literarisch ausgestellten Indizien gesellschaftlicher Verwerfungen im Prozess interkultureller Begegnungen in Zeiten von Fluchtmigration.